
Ist Deutschland ein Eldorado für Blaumacher? In den Diskussionen der vergangenen Monate über den hohen Krankenstand hat es viele Äußerungen dieser Art gegeben. Oliver Bäte, Vorstandsvorsitzender des Allianz Konzerns, bezeichnete das Land als „Weltmeister bei Krankmeldungen“.
In Bezug auf die wirtschaftlichen Folgen wagte der Spiegel die steile These, dass immer mehr Wirtschaftsbosse behaupteten, Deutschland schwänze sich in die Rezession. In dieselbe Richtung, aber etwas weniger plakativ äußerte sich Mercedes-Chef Ola Källenius: „Der hohe Krankenstand in Deutschland ist ein Problem für die Unternehmen.“
Eine andere deutsche Premium-Marke geht da nicht mit: Für 2023 weise BMW eine Krankenquote von 3,8 Prozent aus. Damit liege man unter dem Niveau von 2022 und deutlich unter den Zahlen des Bundes und der Branche, so ein Sprecher des bayrischen Autobauers.
Gemischtes Bild
Es gibt also ein durchaus uneinheitliches Bild, was das Thema Krankenstand angeht. Das macht auch die Umfrage des Landesverbandes deutlich. 260 Betriebe nahmen an dieser Befragung teil, was einem Viertel aller Mitglieder entspricht (Ergebnisse als PDF s.u.). Auf die Frage nach der aktuellen Krankenstandslage halten sich die Einschätzung „überdurchschnittlich“ und „normal“ die Waage. Jeweils 37 % der Befragten wählten diese Antwort. Immerhin 13 % beurteilten die Lage als „besorgniserregend“, aber für fast ebenso viele war der aktuelle Krankenstand sogar „unterdurchschnittlich“.
Klare Aussagen sind offensichtlich schwierig. Es gibt natürlich keine verläßlichen Zahlen darüber, wie viele der als krank Gemeldeten in Wirklichkeit „Blaumacher“ sind. Sichtbar wird jedoch ein Mißtrauen in die Leistungsbereitschaft der Arbeitenden. Von Seiten der Politik hieß es in Person des CDU-Generalsekretärs sogar: „In Deutschland gibt es gar keine Leistungsbereitschaft mehr!“
Karenztag als Lösung?
Tesla machte im vergangenen Jahr Schlagzeilen, weil der Leiter des Werks im brandenburgischen Grünheide bei Krankgemeldeten umangekündigte Hausbesuche machte. Der oben erwähnte Allianz-Chef Bäte forderte die Einführung des Karenztages. Der erste Tag einer Krankschreibung solle also komplett vom Arbeitnehmer getragen werden.
Dies hielten auch viele Mitgliedsbetriebe gemäß der oben erwähnten Umfrage für eine gute Idee. Mehr als 60 % der Teilnehmenden waren überzeugt, durch die Einführung einer erst am zweiten Tag wirkenden Lohnfortzahlung werde der Krankenstand reduziert.
Abschaffung der telefonischen Krankmeldung
Noch mehr (67 %) plädieren dafür, es den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nicht mehr so leicht zu machen, sich krank schreiben zu lassen. Die Abschaffung der telefonischen Krankmeldung wird deshalb gefordert, weil dadurch gerade die leichten Erkrankungen („Unpässlichkeit“) nicht mehr als Abwesenheitsgrund genommen würden. Über 72 % der Befragten erwarten diesen Effekt.
Was die Statistik sagt
Was sagen denn die großen Zahlen, die Statistiken für Deutschland und Europa? Hat es eine signifikante Steigerung bei der Zahl der Krankmeldungen gegeben? Ja, die hat es tatsächlich gegeben. Im Jahr 2022 stieg der Krankenstand in Deutschland um fast 50 % gegenüber dem Vorjahr. Dies lag aber vor allem an einer neuen Form der Übermittlung. Bis zum 1. Januar 2022 mussten Arbeitnehmer eine Krankschreibung selbst an die Krankenkasse weiter leiten. Das taten sie bei leichteren Erkrankungen häufig nicht, weil das Krankengeld der Kassen erst nach sechs Wochen Arbeitsunfähigkeit gezahlt wurde. Seit 2022 übernahmen die Arztpraxen die Krankmeldung an die Kassen – lückenlos.
Weder Welt- noch Europameister
Dass es in jenem Jahr 2022 einen steilen Anstieg der Krankmeldungen gegeben hat, ist also unstrittig. Nimmt man jedoch nicht dieses Jahr allein, sondern schaut auf einen längeren Zeitraum davor und danach, dann wird deutlich, dass in Deutschland Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer etwa 6,8 % ihrer Arbeitszeit wegen einer Krankschreibung versäumen. Dies ist heute genauso wie vor der Pandemie, was u.a. eine europaweite Erhebung der OECD verrät. In dieser Studie wird deutlich, dass Deutschland weder Welt- noch Europameister in Sachen Krankschreibung ist. In Europa liegen bspw. Norwegen, Finnland, Spanien und Frankreich noch vor den Deutschen.
Tatsache ist aber auch, dass z.B. in den Niederlanden die Krankheitsdauer und damit die Abwesenheit von der Arbeitsstelle niedriger ist als in Deutschland.
Niederländisches Modell
Wie machen unsere Nachbarn das? In den Niederlanden gab es ursprünglich ein System, bei dem die Krankenkassen die Kosten für die erkrankten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer trugen – vom ersten Tag an. Die Quote der Krankgeschriebenen war hoch. Dann verpflichtete die Regierung die Unternehmen, die Kosten für erkrankte Mitarbeitende in den ersten beiden Jahren selbst zu tragen. Das Ergebnis war eine deutliche Reduzierung der Ausfalldauer.
Was Unternehmen tun können
Dieses sogenannte „niederländische Modell“ weist den Unternehmen also eine große Verantwortung für die Gesunderhaltung ihrer Belegschaften zu. Dazu gehören Führungskräfte und Betriebsärzte, die umgehend das Gespräch mit den Erkrankten suchen, aber auch Vorsorgemaßnahmen durch regelmäßige Check-ups, Fitnessangebote und Info-Kurse zu Themen wie gesunde Ernährung. Daimler Truck richtete z.B. zu diesem Zweck in vielen Standorten eigene Gesundheitszentren ein.
Experten sehen aber noch einen andere „Baustelle“: die Langzeitkranken. Es müsse verhindert werden, dass diese Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer den Bezug zu Betrieb und Arbeitsleben verlören. Aus diesem Grund sei es so wichtig, im Kontakt mit diesen Personen zu bleiben und das schon zu Beginn einer Erkrankung. Ein flexibles System, wie es z.B. in Skandinavien vorhanden sei, mache eine „Teilzeitkrankschreibung“ möglich. Im Gespräch mit einem Arzt werde zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer untersucht, wozu der Kranke in der Lage sei und seine Arbeitsaufgaben dementsprechend angepasst.
Eine solche Vorgehensweise erfordere echtes Interesse an den Mitarbeitenden. Im Ergebnis fördere genau das die Bindung an das Unternehmen und die Arbeitsmotivation. Dort liege der Schlüssel für niedrige Krankenstände: ein Betrieb, ein Unternehmen, das sich um seine Belegschaft wirklich kümmert.